Der Goldpreis eilt von einem Rekord zum nächsten. Und dennoch ist das Interesse der Privatanleger, insbesondere in westlichen Ländern, nach wie vor sehr gering. Der Großteil der Nachfrage stammt von Institutionen, insbesondere den Zentralbanken der Schwellenländer. Es fehlt noch immer weithin das Verständnis für die monetäre Rolle des gelben Metalls... obwohl Gold seit Jahrtausenden im Zentrum des internationalen Finanzsystems steht. Wie lässt sich diese geringe Demokratisierung erklären? Warum sind andere Vermögenswerte für Anleger attraktiver? Welche Faktoren verhindern eine größere Begeisterung für das Edelmetall? Um diese Dynamik zu verstehen, haben wir John Reade befragt, einen der weltweit führenden Goldmarkt-Strategen. Nach einer langen Karriere bei den weltgrößten Geschäftsbanken ist Reade heute Direktor für Strategie und Forschung beim World Gold Council in London, und seit fast 40 Jahren Spezialist für diesen Markt.
Julien Chevalier: Wie erklären Sie sich das relative Desinteresse westlicher Privatanleger, insbesondere in Europa und Nordamerika, an Gold, obwohl das Interesse institutioneller Anleger – insbesondere der Zentralbanken – noch nie so groß war wie heute?
John Reade: Zwar ist die Nettonachfrage westlicher Anleger nach physischem Gold nach wie vor deutlich geringer als noch vor einigen Jahren, doch sehen wir unmissverständliche Anzeichen für ein wiederauflebendes Kaufinteresse. Aus den aktuellen Entwicklungen lässt sich schlussfolgern, dass die Besitzer von physischem Gold nach mehreren Jahren starker Performance nun Gewinne mitnehmen wollen. Die Käufe bleiben nach Angaben von vielen Händlern, die wir befragen, auf einem guten Niveau, aber auch die Wiederverkäufe sind erhöht.
An einigen Märkten könnten steigende Zinsen Anleger dazu veranlassen, ihre Gewinne mitzunehmen. In Deutschland beispielsweise wurden die niedrigen Zinsen als Grund für das hohe Kaufvolumen nach der Corona-Pandemie angeführt; die Rückkehr attraktiverer Renditen für Spareinlagen könnte daher Verkäufe ausgelöst haben.
In den Vereinigten Staaten hat die Stärke des Aktienmarktes den wahrgenommenen Bedarf an Diversifizierung und Absicherung des Vermögens verringert, hinzu kommen ebenfalls die Auswirkungen des gestiegenen Zinsniveaus.
Es gibt jedoch Anzeichen für eine Zunahme der Goldinvestitionen in westlichen Staaten, zumindest in Europa: Im ersten Quartal dieses Jahres erhöhten sich sie im Vergleich zum Vorjahr, wenn auch ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau. Die Nachfrage nach Barren und Münzen in der Region kletterte auf 26 Tonnen, was vor allem auf das Wachstum an den deutschsprachigen Märkten zurückzuführen ist.
Julien Chevalier: Glauben Sie, dass das wachsende Interesse der Zentralbanken an Gold, das sich in Rekordkäufen niederschlägt, letztendlich das Verhalten privater Anleger beeinflussen könnte?
John Reade: An bestimmten Märkten scheint das Signal, das von den Zentralbanken ausgesendet wird, die Gold kaufen, tatsächlich die Stimmung der Privatanleger zu stützen – insbesondere in China und möglicherweise auch in Indien. Dies könnte teilweise erklären, warum Anleger aus Schwellenländern eher zum Kauf von Gold neigen als westliche Investoren. Man darf nicht vergessen, dass die Zentralbanken der Schwellenländer seit ein oder zwei Jahrzehnten die größten Käufer darstellen.
Julien Chevalier: Ist es Ihrer Meinung nach ein Fehler, Gold den sogenannten „Zukunftswerten” (insbesondere Aktien aus den Bereichen KI, Verteidigung oder Energiewende) gegenüberzustellen, da Gold ein zeitloser und universeller Vermögenswert ist?
John Reade: Anleger sollten vorsichtig sein, wenn sie versuchen, die Gewinner von morgen zu identifizieren. Sich auf im Trend liegende Sektoren zu stürzen, kann manchmal funktionieren, aber im Allgemeinen bleibt die Auswahl des richtigen Sektors schwierig. Wir empfehlen stattdessen, ein breit gestreutes Portfolio aufzubauen, wobei Gold in dieser Hinsicht ein hervorragendes Instrument zur Diversifizierung gegenüber den Risiken des Aktienmarktes darstellt. Als hochliquider Vermögenswert profitiert Gold von einer vielfältigen Nachfrage: Es dient als Anlage, als Devisenreserve für Zentralbanken, als Konsumgut in Form von Schmuck und ist Bestandteil moderner Technologien. Es bietet langfristigen Wertzuwachs, Diversifizierung und Liquidität – Eigenschaften, die es zu einer idealen Ergänzung für Aktien und Anleihen machen...
Julien Chevalier: Hat die verzerrte Wahrnehmung der Wertentwicklung von Aktien und Anleihen, die durch mehr als zwanzig Jahre Geld zum Nullzins gestützt wurde, die strategische Rolle verdeckt, die Gold in einem Portfolio spielen kann?
John Reade: Das glauben wir nicht. Die historische Performance von Gold ist im Vergleich zu anderen, traditionelleren Anlagen über einen Zeitraum von 5, 10 oder 20 Jahren sehr vorteilhaft. Wir sind vielmehr der Meinung, dass ein tiefes Unverständnis darüber herrscht, welche Rolle Gold in einem Portfolio spielen kann. Der World Gold Council hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Wissen durch Forschungsarbeiten, Analysen und Informationsangebote für Anleger zu verbessern.
Julien Chevalier: Glauben Sie, dass das Image des „sicheren Hafens”, das vor allem mit älteren Generationen in Verbindung gebracht wird, heute das Interesse junger Anleger an Gold bremst? Hat der Erfolg von Kryptowährungen und Technologiewerten Gold in der Vorstellung der Privatanleger dauerhaft in den Hintergrund gedrängt?
John Reade: Jüngere Generationen haben möglicherweise andere Beweggründe für ihre globalen Anlagestrategien, und es könnte sein, dass sie besser über die Bedeutung von Gold für langfristige Wertsteigerungen, Liquidität und Diversifizierung aufgeklärt werden müssen. Denn wenngleich manche Kryptowährungen vorgeben, „digitales Gold” zu sein, handelt es sich doch um grundsätzlich unterschiedliche Vermögenswerte, die sich sogar gegenseitig ergänzen können.
Junge Anleger haben darüber hinaus erlebt, dass sich risikoreiche Assets seit der globalen Finanzkrise sehr gut entwickelt haben. Zwar kam es auch zu Korrekturen an den Aktienmärkten, doch waren diese nur von kurzer Dauer, und der Ansatz „buy the dip”, d. h. bei Kursrückgängen zu kaufen, hat sich oft ausgezahlt. Das wird aber nicht zwangsläufig immer so bleiben. Nach tieferen und längeren Korrekturen werden junge Anleger wahrscheinlich die Lektionen lernen, die frühere Generationen bereits verinnerlicht haben, was ihr Interesse an Gold steigern könnte.
Julien Chevalier: Warum ist Gold Ihrer Meinung nach für Privatanleger im aktuellen Klima wirtschaftlicher und geopolitischer Unsicherheit relevanter denn je?
John Reade: Gold ist eine bewährte Absicherung gegen Inflation, es entwickelt sich in verschiedenen Wirtschaftsszenarien gut und dient in Zeiten wirtschaftlicher und geopolitischer Unsicherheit als Wertspeicher. Aus diesem Grund steigt die Nachfrage nach Gold und sein Preis zeigt eine anhaltende Aufwärtsdynamik. Angesichts ausufernder Haushaltsdefizite und Staatsschulden gehen manche Investoren davon aus, dass uns eine Zeit großer monetärer und fiskalischer Unsicherheit bevorsteht. Sollte sich dies bewahrheiten, könnte Gold eine noch viel wichtigere Rolle in den Portfolios spielen, die sogar über seine hervorragende Performance seit Beginn des Jahrtausends hinausgeht.
Die vollständige oder teilweise Vervielfältigung ist gestattet, sofern sie alle Text-Hyperlinks und einen Link zur ursprünglichen Quelle enthält.
Die in diesem Artikel bereitgestellten Informationen dienen rein informativen Zwecken und stellen keine Anlageberatung und keine Kauf- oder Verkaufsempfehlung dar.