Der Großhandel erwartet einen Anstieg des Preisniveaus im Lebensmittelsegment, wie aus einem Artikel von Le Figaro hervorgeht. Michel-Edouard Leclerc, Vorsitzender einer Supermarktgruppe mit gleichem Namen, hat das präzisiert und von einem „verdammten Preisanstieg bereits in diesem Monat“ gesprochen. Man braucht sich darüber nicht zu wundern. Eine der wenigen Wirtschaftstheorien, die tatsächlich funktionieren, hat diese Entwicklung bereits vorausgesagt: Der Cantillon-Effekt.

Richard Cantillon (1680-1734) war ein Financier und Ökonom irländischer Herkunft, der in Frankreich ein Vermögen gemacht hat, da er den Zusammenbruch des Geldsystems von John Law (dem Erfinder des Papiergeldes) voraussah. Er setzte sich mit der großen Inflation des 16. Jahrhunderts auseinander, die eine Folge der beträchtlichen Mengen an Gold war, welche nach der Eroberung der Neuen Welt nach Europa flossen. Er erklärt – und das ist das Interessante an seiner Analyse – dass sich die Preiserhöhungen nicht gleichmäßig, sondern in Wellen vollzogen.

Die Zunahme des Goldangebotes, die für die damalige Zeit erheblich war, geht auf den spanischen König Philipp II. zurück, der das Gold hauptsächlich in die Aufrüstung investiert, namentlich in den Bau der Spanischen Armada, die der britischen Marine die Stirn bieten soll. Die Flut an neuen Aufträgen lässt die Preise im Rüstungssektor steigen und vergrößert damit den Reichtum der Fabrikanten und in einem geringeren Maße auch den der Zulieferer (Holz, Eisen). Dies setzt sich mit abnehmender Intensität weiter fort, bis zum Agrarsektor am unteren Ende der Leiter. Der Bauer, der Bretter und Nägel für die Reparatur seines Karrens kaufen möchte, stellt fest, dass die Preise gestiegen sind, ohne dass er seine eigenen ebenfalls erhöhen konnte. Er macht folglich einen Verlust. Wenn dann schließlich auch in der Landwirtschaft die Preise steigen, zieht die Teuerung im Rüstungssektor umso stärker an, da der Zufluss an Edelmetallen anhält. Die Preisstruktur wird so kontinuierlich deformiert: zum Vorteil derer, die dem Goldzufluss nahestehen, und zum Nachteil derer, die sich am Ende der Kette befinden. Der Wohlstand der einen steigt, während der Wohlstand der anderen sinkt. Das ist der Cantillon-Effekt.

Welche Verbindung besteht nun zu den heutigen Entwicklungen? Wir beobachten das gleiche Phänomen. Die Quelle des Reichtums ist heute nicht das Gold der Inka, sondern das Geld der Notenbanken. In den USA, in Japan und in Europa haben die Zentralbanken seit der Finanzkrise 2008 beschlossen, ihre Leitzinsen auf etwa 0 % zu senken und eine Geldpolitik der „quantitativen Lockerungen“ (Quantitative easing) zu betreiben, welche darin besteht große Mengen Staatsanleihen aufzukaufen, um die Finanzierung der Haushaltsdefizite zu erleichtern, die im Zuge der Corona-Krise explodiert sind. Von dieser Geldflut profitieren vor allem die Banken und der Finanzsektor im Allgemeinen (dessen Umfang im Verhältnis zum BIP unaufhörlich wächst), deren Hauptanlageklassen (Aktien und Anleihen) und die bankenfinanzierten Branchen (Immobilien).

An den Finanzmärkten macht sich die Inflation schon seit Langem bemerkbar (Aktien- und Immobilienmärkte), doch nun erreicht uns die letzte Welle des Cantillon-Effekts mit Preisniveausteigerungen bei alltäglichen Konsumgütern (Energie, Lebensmittel, langlebige Gebrauchsgüter). Die Rohstoffproduzenten, die angesichts der Druckerpressen der Zentralbanken einen Kaufkraftverlust befürchten, beschließen ihre Preise zu erhöhen und die Inflation hält Einzug in allen Branchen.

Richard Cantillon lehrt uns, dass sich Inflation nicht gleichmäßig ausbreitet, sondern in Wellen. Dies beinhaltet auch eine Deformierung der Preisstruktur, die keine Folge realwirtschaftlicher Gegebenheiten, sondern vielmehr ein monetäres Phänomen ist. Die Preisen senden daher fehlerhafte Informationen aus, was wiederum Mini-Blasen (Erdgaspreise), Versorgungsengpässe (Halbleiter) und eine ganze Reihe von Störungen in der Wirtschaft hervorruft.

„Die Inflation ist temporär“, behaupten die Zentralbanken, aber nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Immerhin speisen sie die Geldflut selbst mit ihren unermüdlichen Druckerpressen. Sie sind die Ursache des Problems. Die Inflation und ihre schädlichen Auswirkungen sind daher noch lange nicht aus der Welt geschafft.

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