Seit Jahren zeichnen sich die Schwellenländer durch ein stärkeres Wachstum aus als die westlichen Staaten. Die Globalisierung hat diesen Ländern in Kombination mit dem Aufstieg Chinas eine rasante Entwicklung ermöglicht. Während frühere internationale Krisen ihre Wirtschaft hart trafen, scheint sich dies nun nach und nach zu ändern. Diese eng mit der Entwicklung des US-Dollars verknüpfte Abhängigkeit schwindet zunehmend und bereitet den Weg hin zu einem neuen globalen Gleichgewicht.
Die Idee einer Teilung der Welt in den „globalen Norden“ und den „globalen Süden“ bleibt eine Illusion. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die Handelsbeziehungen: Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten zählen zu den drei größten Handelspartnern Chinas. Deutschland beispielsweise bleibt der wichtigste Handelspartner Brasiliens und der Türkei, während die USA diesen Status in Indien, Mexiko, Pakistan… haben. Die Liste ist lang. Die Beziehungen, in erster Linie wirtschaftlicher Natur, zwischen den Staaten der beiden Pole sind zahlreich.
Was ist der „globale Süden“, wenn nicht ein bunt zusammengewürfeltes Ensemble unterschiedlichster Staaten? Er umfasst die bedeutendsten Schwellenländer, d. h. die, die internationalen Einfluss erlangt haben, an erster Stelle China, aber auch Indien, Südafrika, Argentinien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, Malaysia, die Philippinen, Pakistan, die Türkei und zahlreiche andere.
Seit mehreren Jahrzehnten übertrifft das Wirtschaftswachstum dieser Länder das der Industrienationen deutlich. Natürlich ist es leicht zu sagen, dass das geringe Wachstum der westlichen Staaten für „fortgeschrittene“ Volkswirtschaften keineswegs überraschend ist. Doch mit ihren bodenlosen Defiziten an mehreren Fronten, u.a. im Staatshaushalt und im Außenhandel (Frankreich weist beispielsweise vier Defizite gleichzeitig auf!), sowie einer Verschuldung, die in vielen Fällen mehr als 100 % des BIP entspricht, beruht ihr verbleibendes Wachstum auf einer wenig nachhaltigen Grundlage – selbst ohne daran zu erinnern, dass die westlichen Volkswirtschaften in ihrer Gesamtheit eine Flucht nach vorn gestartet haben.
Das Wachstum der Schwellenländer ist heute fast genauso stark wie während der Boomphase der 2000-er Jahre. Damals wurde ihre Wirtschaft im Wesentlichen vom Aufschwung in China und den steigenden Rohstoffpreisen beflügelt. Heute schwächelt die chinesische Wirtschaft allerdings aufgrund einer Politik der massiven Verschuldung und einer Krise des Immobiliensektors. Das Land verfolgt mittlerweile sogar eine ähnliche Geldpolitik wie die westlichen Staaten (und wie sie erstmal von Japan in den 1990-er Jahren umgesetzt wurde): Die Chinesische Volksbank senkt die Zinssätze und kauft Staatsschulden auf. Die Regierung von Xi Jinping überlässt die historische Rolle Chinas als „Fabrik der Welt“ indes zunehmend anderen asiatischen Staaten mit schnellerem Wachstum und einer vielversprechend erscheinenden Zukunft.
China mag aktuell nicht mehr so viele Asse im Ärmel haben wie früher, doch die Rohstoffe bleiben Trumpf. Die Schwellenländer verfügen über natürliche Ressourcen, die den Industriestaaten fehlen, insbesondere den europäischen Staaten. Als wichtige Rohstoffproduzenten, teilweise sogar mit Monopolstellung, profitieren sie von der Hausse der Rohstoffpreise (vor allem nach der Krise von 2008 und der akkommodierenden Geldpolitik der Fed), um ihre Entwicklung voranzutreiben. In gewisser Weise liefern sie den fortgeschrittenen Volkswirtschaften die Ressourcen, die diese für ihre Wachstumsmärkte benötigen, und das heute in einer Phase der Inflation. Ganz gleich, ob es sich um Lithium handelt, das in der Fertigung nachhaltiger Technologien und für Chips benötigt wird, oder um Nickel für die Batterien von E-Fahrzeugen, oder um Kupfer für Kabel und Telekommunikationstechnik….
Diese Rohstoffe sind außerdem entscheidend für Unternehmen, die ihre Standorte verlegen wollen und insbesondere von den geringeren Energiekosten angezogen werden. Im Zuge der Umstrukturierung weltweiter Lieferketten aufgrund der Gesundheitskrise sind viele dieser Länder zu globalen Fertigungszentren geworden und erleben nun eine rasante Industrialisierung. Indien hat sich beispielsweise zu einem echten Technologiezentrum entwickelt, China beherbergt ein globales Produktionszentrum für nachhaltige Technologien, Brasilien ist zu einem der Hauptakteure im Agrobusiness geworden, Mexiko betreibt ein Produktionszentrum für Raumfahrtechnik, Malaysia ist zu einem unumgänglichen Hersteller im Bereich Elektronik und Halbleitertechnik geworden etc.
Darüber hinaus können all diese Länder mit günstiger Arbeitskraft aufwarten. Sie profitieren von einem rasanten demografischen Wachstum, welches äußerst attraktiv erscheint. China, Indien und Russland vereinen heute zusammen mehr als 30 % der Weltbevölkerung. In wenigen Jahren wird die Mehrheit der Menschen im arbeitsfähigen Alter in Schwellenländern leben. Dank ihres höheren Konsums stellen diese Menschen einen starken Motor für den Binnenmarkt der entsprechenden Länder dar.
Dank dieser Faktoren können die Unternehmen der Schwellenländer hohe Profite einstreichen und massiv investieren. In diesem Jahr verzeichnen sie ein Plus von fast 20 % (verglichen mit nur 10 % bei den amerikanischen Unternehmen, denn die US-Wirtschaft ist nur zum Schein stabil) bei stetig wachsenden Gewinnmargen, während diese in den meisten westlichen Staaten stagnieren. In den kommenden Jahren sollten die Schwellenländer insgesamt also stärker wachsen als die Industriestaaten.
Auch die Entwicklung des US-Dollars schafft neue Bedingungen, die den Schwellenländern zugutekommen. Der unvermeidliche Wertverlust der amerikanischen Währung mittel- und langfristig begünstigt ihre wirtschaftliche und finanzielle Gesundheit. Diese Situation zeichnet sich schon heute ab, während sich die US-Notenbank auf eine Zinssenkung im September vorbereitet. Da 80 % des Welthandels (und vor allem die Rohstoffe) in Dollar abgewickelt werden, führt eine Abschwächung des Dollars einerseits zur Vergünstigung der von den Schwellenländern gekauften Güter und Dienstleistungen und lässt ihre Verkaufspreise andererseits steigen. Darüber hinaus erhöht sich auch der Wert der wachsenden Gold- und Silberreserven der Schwellenländer (bzw. ihrer Zentralbanken).
Die Baisse der US-Währung reduziert die Last ihrer auf Dollar lautenden Schulden und führt gleichzeitig zu einer Aufwertung der Aktiva der Schwellenländer. Aufgrund ihrer günstigen Bewertung sind diese Finanzwerte im Laufe der Jahre immer attraktiver geworden. Sie ermöglichen oft eine bessere Performance als die westlichen Aktienindices, trotz der anhaltenden Anziehungskraft des amerikanischen Marktes, der von der Begeisterung für künstliche Intelligenz und der noch immer üppig vorhandenen Liquidität der US-Notenbank aufgeputscht wird.
Die Länder des „globalen Südens“, von denen mehrere auch den BRICS angehören, erleben heute also einen beachtlichen Aufschwung, der mit nichts in den letzten beiden Jahrzehnten vergleichbar ist. Ihr wirtschaftliches Gewicht, das aktuell mehr als einem Drittel des globalen BIP entspricht (d. h. mehr als die Wirtschaftsleistung der G7-Staaten), bedeutet, dass schon ein einfacher Rückgang des Produktivitätswachstum der Schwellenmärkte die weltweite Produktion dreimal so stark sinken lassen könnte wie noch zu Anfang der 2000er Jahre.
Die Machtverhältnisse verschieben sich, und das aus gutem Grund: Ihre wirtschaftlichen Trümpfe gereichen den Schwellenländern zu diplomatischen Einflussfaktoren, ebenso wie die veränderlichen Positionen der westlichen Staaten, die dadurch zur Konsolidierung der BRICS-Gemeinschaft mit allen sich daraus ergebenden Folgen beitragen. Die heutige Zeit bezeugt dies: Die Tatsache, dass die Ukraine grenzenlose Unterstützung erhält, während die ärmsten Staaten „Entwicklungshilfe“ und Kredite bekommen, die sie nur noch tiefer in die Armut sinken lassen, verstärkt nur ihr Misstrauen gegenüber dem Westen.
Nichtsdestotrotz kann ihre rasante Entwicklung, die charakteristisch ist für die sich abzeichnende neue Welt, eine dunkle Wahrheit nicht verbergen: Viele Schwellenländer bleiben Gefangene der Schulden, die sie bei den westlichen Finanzinstitutionen wie dem IWF und der Weltbank aufgenommen haben. Wenngleich ihr politischer Einfluss wächst, ist er nicht ausreichend, um sie völlig von diesen unsichtbaren Ketten zu befreien. Sie bleiben damit einer Weltordnung ausgeliefert, deren Neudefinition sie nun anstreben…
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