Die Eskalation der geopolitischen Spannungen und die Gefahr einer weiteren Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts stellen die bereits zersplitterte Welt vor neue Herausforderungen. Das internationale Wirtschafts- und Finanzsystem kann durch diese Situation nur geschwächt werden, während die Inflation anhält und das Wachstum schwach bleibt.
Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober erinnert an die 1970er Jahre und den damit verbundenen drastischen Anstieg der Ölpreise. Doch wie immer reimt sich die Geschichte nur. Die heutige Zeit ist einzigartig und verdient eine Analyse unter langfristigen Gesichtspunkten. Sie markiert das Ende eines Wirtschaftszyklus, der nach dem Zweiten Weltkrieg begann und mehrere Krisen durchlief, darunter die beiden Ölpreisschocks von 1973 und 1979 sowie die Krisen von 2000 und 2008. Verschiedene historische Faktoren legen diese Deutung nahe: die Vielzahl der Herausforderungen (insbesondere demografischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur), die Verschuldung der Großmächte (die im Vergleich zum produzierten Wohlstand heute so hoch ist wie in den 1930er Jahren) und die Erhöhung der Militärausgaben weltweit. Im Klartext heißt das: Die aktuelle Zeit ist keine Fortsetzung der Vergangenheit, sondern ein Sprung in die Zukunft, denn die Welt von morgen wird in den Konflikten von heute entschieden. Das ist auch der Grund für die zunehmende Schwächung der Demokratie: Die Zukunft ist unsicherer denn je.
Ohne diese globale Perspektive würde alles darauf hindeuten, dass sich die Geschichte mit dem von der Hamas geführten Angriff auf Israel wiederholt: Die Region wird von einem Krieg erschüttert, die Ölpreise klettern und obwohl es keinen Hinweis auf einen Rückgang des verfügbaren Angebots gibt, werden bestimmte Länder, z. B. der Iran, ihre Macht als Ölproduzenten in den diplomatischen Beziehungen missbrauchen (so wie die Golfstaaten 1973). Saudi-Arabien und Russland spielen diese Rolle schon seit mehreren Monaten und beabsichtigen sie fortzusetzen, indem sie ihre Produktion bis Jahresende drosseln. In einer globalisierten und noch weitgehend von fossilen Brennstoffen abhängigen Wirtschaft ist das Risiko hoch, dass die Preise unter Aufwärtsdruck geraten. Vor allem in den Schwellenländern, wo die Energiepreise oft einen erheblichen Teil der Inflation ausmachen, aber auch in den USA, wo sich die Teuerungen seit nunmehr mehreren Monaten wieder beschleunigen. Die Regierung Biden bereitet sich auf einen anhaltenden Konflikt vor und will im Dezember und Januar im Rahmen ihres Plans zur Wiederauffüllung der Notreserven sechs Millionen Barrel Öl kaufen. Von nun an wird die Entwicklung der Inflation in vielen Ländern also teilweise von der Dauer und dem Ausmaß des Konflikts im Nahen Osten bestimmt.
Neue Risiken treten hervor. Im Zeitalter der Hyperdigitalisierung birgt die digitale Welt eine zusätzliche Bedrohung. Seit dem 7. Oktober haben pro-russische und pro-iranische Hackergruppen (die in Bezug auf Cybersicherheit mittlerweile sehr kompetent sind) die Websites der israelischen Regierung und der Presse des Landes angegriffen, indem sie diese mit Informationen aller Art förmlich überfluteten. Israel, das als "Cybermacht" bekannt ist, hat immer wieder zurückgeschlagen (an der Seite der Amerikaner und Inder) und die Kommunikation im Gazastreifen zeitweise sogar vollständig blockiert. Diese Angriffe sind lokal begrenzt, nehmen aber auch in anderen Bereichen zu, insbesondere im Bankensektor, wo auf diese Weise enorme Geldsummen entwendet werden. Unter den verschiedenen Prognosen zum Thema ist auch eine des britischen Versicherungsmarkts Lloyd's in London, der zufolge ein groß angelegter Cyberangriff auf internationale Zahlungssysteme die betroffenen Institutionen im Extremfall bis zu 16 Billionen US-Dollar kosten könnte – ganz zu schweigen vom Vertrauensverlust, den ein solches Ereignis am Interbankenmarkt verursachen würde.
Bereits jetzt beeinflusst die Unsicherheit infolge der geopolitischen Spannungen zusammen mit den unverständlichen Kommentaren der Fed die internationalen Finanzmärkte. Seit mehreren Wochen finden am Anleihenmarkt umfangreiche Abverkäufe statt. Die Anleihen sind aktuell das Sorgenkind der Märkte. Der Referenzzinssatz der 10-jährigen US-Treasuries liegt derzeit auf dem bedeutsamen Niveau von fast 5 %, dem höchsten Stand seit 2007. Gleichzeitig überschreitet der Zins der 2-jährigen Staatsanleihen die 5-%-Marke – ein deutliches Anzeichen, dass der Markt die kurzfristigen Risiken höher einschätzt als die langfristigen. Diese höheren Zinsen wirken sich ihrerseits auf alle anderen Zinssätze an den Märkten aus, insbesondere am Immobilienmarkt, wo der Anstieg kein Ende nimmt. Während die realen Immobilienpreise in den Industrieländern im ersten Quartal 2023 um 8,4 % gefallen sind, schätzt der IWF in seinem jüngsten Bericht zur Finanzstabilität, dass ein Rückgang der Immobilienpreise um 10 % das Finanzvermögen in Höhe von 30 % des BIP beeinträchtigen würde. Der globale Immobilienmarkt entspricht etwa dem Dreifachem des BIP und macht den größten Teil der Bankkredite aus.
Infolgedessen wurden die wichtigsten Indizes in Mitleidenschaft gezogen und setzen ihre Korrektur fort. Der S&P 500 schreibt bereits drei Monate in Folge rote Zahlen und verzeichnet damit die schlechteste Entwicklung seit dem Beginn der Gesundheitskrise im März 2020. Der Nasdaq gibt seinerseits unter dem Einfluss der wichtigsten Technologiewerte nach, die, wie wir uns erinnern, die Marktentwicklung weitgehend bestimmen. Trotz eines spektakulären Jahresbeginns, der von der anhaltenden Unterstützung durch die öffentliche Hand und der Anziehungskraft der künstlichen Intelligenz getragen wurde, fallen die sieben führenden Tech-Unternehmen der USA zurück, seit die Veröffentlichung der Unternehmensergebnisse begonnen hat. Ihre Gewinnaussichten werden in einem mehr als unsicheren Umfeld als wenig beruhigend eingeschätzt. Im Laufe der letzten beiden Wochen wurde so Börsenkapital in Höhe von fast 900 Milliarden Dollar vernichtet. Grund dafür war insbesondere Alphabet, der Mutterkonzern von Google. Am Mittwoch, dem 18. Oktober, verzeichnete das Unternehmen die drittschlechteste Sitzung seiner Geschichte mit einem Kursrückgang von 9,5 % und Verlusten von 180 Milliarden Dollar.
Derzeit herrscht eine hohe Risikoaversion. Jede Schwäche im Finanzsystem droht sich zu einer Bankenkrise auszuwachsen. Finanzwerte, die sich in Zeiten der Instabilität in der Vergangenheit als widerstandsfähig erwiesen hatten, sind es heute nicht mehr. Sie werden vom volatilen internationalen Umfeld und vor allem von der Geldpolitik der Fed eingeholt, die - zumindest auf kurze Sicht - weiterhin restriktiv sein wird. Die Anleger beobachten daher den geopolitischen Kontext und die Wirtschaftsdaten sehr genau und hoffen, dass letztere so ungünstig wie möglich ausfallen, damit die Fed die Zinsen nicht weiter erhöht. Der Anstieg des amerikanischen BIP um 4,9 % im dritten Quartal wurde entsprechend als schlechtes Zeichen gewertet und führte zu einer deutlichen Reaktion der Märkte. Die „neue Realität“ sieht so aus: Die Finanzwelt, die eigentlich der Realwirtschaft dienen sollte, reagiert negativ auf eine positive Wirtschaftsentwicklung. Und das, obwohl die Realwirtschaft von den Märkten abhängig ist, weil die öffentliche Hand systemrelevante Finanzinstitute dauerhaft unterstützt, koste es, was es wolle. Der Mechanismus zur Kreditvergabe in letzter Instanz, den die US-Notenbank nach der Pleite der SVB eingeführt hat, ist ein beredtes Beispiel. Indem die Fed Aktiva zum Nennwert (unabhängig von ihrem aktuellen Marktwert) akzeptiert, macht sie sich von den latenten Verlusten abhängig, die die Banken seit dem Anstieg der Zinsen erleiden.
Vor diesem Hintergrund geopolitischer und finanzieller Unsicherheit erfüllt Gold seine Rolle als sicherer Hafen trotz der steigenden Realzinsen in vollem Maße. Die Grenzen der engen Beziehung zwischen Realzinsen und Gold treten nun deutlich zu Tage. Seit dem Angriff der Hamas hat der Goldpreis ca. 10 % zugelegt, was ein Zeichen für das Interesse der Käufer an einem Vermögenswert ist, der im Gegensatz zu Anleihen keine Dividende bietet. Die Nachfrage nach Gold wird von Staaten angetrieben, insbesondere von China und Russland, aber auch von Investoren aller Art, die eine Ausweitung des Konflikts und die Volatilität der Märkte fürchten. Die Einzigartigkeit des gelben Metalls übt eine starke Anziehungskraft aus. Es ist nie von der Lage in einer bestimmten Region betroffen (im Gegensatz zu den Staatsanleihen) und hängt auch nicht von politischen oder behördlichen Entscheidungen ab (wie es bei den meisten Finanzanlagen der Fall ist).
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