Die Französische Revolution wurde zu Recht schon immer als Zeit des Aufstandes gegen die bestehende Ungleichheit interpretiert. Doch zumeist wurden die Aufstände und sozialen Unruhen intensiver analysiert als die Ungleichheiten selbst. Ein wichtiger Umstand wird dadurch oft vergessen: Die Rolle der Schulden für die Geburt der Revolution von 1789 und des blutigen Jahrzehnts, das darauf folgte. Diese Jahre markieren das Ende eines langen Wirtschaftszyklus.

 

Die drei Stände: Der dritte Stand, die Geistlichkeit und der Adel @National Library of France

 

Im 18. Jahrhundert zählt Frankreich aufgrund seiner militärischen, wirtschaftlichen, kulturellen und demografischen Stärke zu den Großmächten der Welt. Durch seine Stellung wird das Land in verschiedene Konflikte verwickelt, unter anderem den Österreichischen Erbfolgekrieg 1740, den Siebenjährigen Krieg 1756 und den Unabhängigkeitskrieg der USA 1775. So unterschiedlich diese Kriege waren, führten sie alle zu politischen und manchmal finanziellen Krisen und insbesondere zu Steuerreformen (Steuererhöhungen, Einführung neuer Abgaben etc.) und zum Anstieg der Staatsschulden. Wie heute griffen Ludwig XV. (1715-1774) und nach ihm Ludwig XVI. (1774-1792) schon damals auf die Neuverschuldung zurück, um sich von ihren Taten reinzuwaschen und die Konsequenzen abzuwenden.

Diese Schulden, die damals die Form von Metallgeld (Gold und Silber) annahmen, wurden bei ausländischen Gläubigern zu hohen Zinsen aufgenommen. Erst mit der Gründung der Finanzinstitution Caisse d’Escompte im Jahr 1767, einer Art frühem Vorläufer der Zentralbank Frankreichs, sanken die Zinsen dank dem Aufkaufen von Staatsanleihen. Doch die neue Institution war kein Erfolg, da sich der Staat weiter verschuldete und die Anleihen kostspielig waren. Sie wurde nur zwei Jahre nach ihrer Gründung das erste Mal aufgelöst und einige Jahre später endgültig abgewickelt.

 

Grafik 3.4. Das Staatsvermögen Frankreichs, 1700-2021 - Quelle: piketty.pse.ens

 

Gleichzeitig kommt es im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer dauerhaften Teuerung. Da Gold- und Silbermünzen rar werden und die meisten Franzosen kein Bankkonto besitzen, leihen und sparen sie in großem Maßstab, um ihre Ausgaben zu bestreiten und ihr künftiges Auskommen zu sichern. Auf diese Weise setzt sich die latente Inflation mehrere Jahrzehnte fort.

Angesichts dieser Lage wollen die Intellektuellen den Geldumlauf steigern und die Inflation eindämmen, doch es wird keine Lösung gefunden. Neue ökonomische Denkrichtungen bilden sich heraus und es entsteht eine Spaltung zwischen der liberalen und der interventionistischen Lehrmeinung, die wir heute noch beobachten. Erstere, vertreten durch Turgot, spricht sich für eine Reduzierung der Schulden sowie des Haushaltsdefizits durch Kürzung der Staatsausgaben aus, während letztere zusätzliche Unterstützung vom Staat verlangt. Ab 1776 setzt sich der Interventionismus unter dem Einfluss der Politik von Necker durch, der sich als glühender Anhänger dieses Modells auszeichnet und zunächst Leiter des Schatzamtes und anschließend Finanzminister wird.

Im Laufe der Jahre gleicht die französische Wirtschaft zunehmend einer „Kriegswirtschaft“, selbst in den Friedenszeiten. Am Vorabend der Französischen Revolution werden fast 30 % des Staatshaushaltes für den Unterhalt der Armee verwendet, 20 % für öffentliche Ausgaben und die verbleibenden 50 % fließen ausschließlich in Zinszahlungen. Das Defizit wächst, die Staatsschulden steigen unaufhörlich und erreichen 80 % des erwirtschafteten Reichtums (entspricht dem heutigen BIP). Das Vermögen des Landes befindet sich fast ausschließlich in den Händen der reichsten 10 %.

Statt eine Reform des Geld- und Währungssystems auszuklügeln und obwohl weiterhin eine frappierende Ungleichheit herrscht, werden neue Steuererhöhungen beschlossen. Die Mehrheit der Bürger wird noch stärker finanziell ausgequetscht, während eine Minderheit an Adligen von Ausnahmen profitiert. Die Ungleichheit nimmt zu, die Preise steigen weiter und Missernten infolge von Trockenheit lassen die Preise für Brot förmlich explodieren. Mit leerem Magen geht das Volk auf die Straße, um ein gerechtes Steuersystem zu fordern, insbesondere einen Beitrag der Reichen zum Steueraufkommen. Im Jahr 1988 brechen die ersten Unruhen und Aufstände aus. Das sind die Vorboten der Französischen Revolution.

In dieser Zeit schlägt ein Literat namens Linguet, der die enge Verbindung zwischen dem Finanzsystem und dem Beginn der sozialen Unruhen erkennt, die Annullierung eines Teils der Schulden vor. Doch gegen seine Lösung regt sich heftiger Widerstand und er wird während der Terrorherrschaft durch die Guillotine hingerichtet. Ohne es zu ahnen, riet er zu einer Maßnahme, die einige Jahre später, nach einer blutigen Dekade, schließlich doch ergriffen wurde.

Es beginnt das Jahr 1789. Im Januar fordern die wütenden Franzosen als ersten Punkt aus dem Beschwerdekatalog eine Steuersenkung. Doch die Minister sind machtlos angesichts der sich überschlagenden Ereignisse. Die Zinszahlungen steigen unaufhörlich weiter und der Staat ist bankrott. Die Generalstäbe werden einberufen, um die Frage zu regeln. Die Situation verschärft sich. Am 14. Juli greifen 900 Personen das Gefängnis der Bastille an, um sich neue Waffen zu besorgen.

 

 

Vor diesem Hintergrund ruft Finanzminister Necker zur Einführung einer Sondersteuer auf. Der Revolutionspolitiker Mirabeau, dem nachgesagt wird, dem französischen Volk „nahezustehen“, unterstützt den Vorschlag und erklärt im September 1789 in einer berühmt gewordenen Rede: „Zwei Jahrhunderte der Plünderungen und Raubzüge haben den Abgrund ausgehoben, in dem das Königreich nun zu versinken droht. Dieser schreckliche Abgrund muss gefüllt werden! Hier ist eine Liste französischer Grundbesitzer. Wählen Sie unter den Reichsten, um weniger Bürger zu opfern. Diese zweitausend Standespersonen besitzen genug, um das Defizit auszugleichen. Doch heute ist der Staatsbankrott, der abscheuliche Staatsbankrott, eingetreten; er droht Sie, Ihre Besitztümer und Ihre Ehre zu verschlingen.“ Selbst hoch verschuldet, erhält er einen Monat später vom König heimlich 200.000 Francs und anschließend einige Tausend monatlich, um zugunsten der Interessen des Adels zu stimmen…

Im Herbst 1789 herrscht eine Atmosphäre des Schreckens in Frankreich. Die Finanzkrise verschlimmert sich zusehends und es kommt zu neuen Aufständen. Necker glaubt, dass die galoppierende Inflation das Staatsschuldenproblem lösen und die Situation entspannen kann. Angesichts der Knappheit von Gold und Silber nimmt er dennoch einen weiteren Kredit über 30 Millionen Pfund zu sehr hohen Zinsen auf, die nunmehr infolge einer Reform vom Markt festgelegt werden.

Ein Jahr später trifft die Verfassungsgebende Versammlung die Entscheidung, die nach dem Scheitern des Systems von John Law im Jahr 1720 abgeschafften Assignaten wieder einzuführen, eine Papierwährung. Dieses Geld wird in großen Mengen basierend auf konfiszierten Besitztümern des Adels und des Klerus geschöpft. 1790 werden mehr als eine Milliarde Pfund in Form von verzinsten Assignaten gedruckt. Anschließend gibt der Staat noch mehr heraus und versucht auf diese Weise, seine Schulden abzubezahlen und den Krieg gegen Österreich zu finanzieren, der 1792 von den Girondisten ausgelöst wurde. Doch zahlreiche Assignaten sind gefälscht und es wird viel auf ihren Wert spekuliert. Im politischen und sozialen Chaos geht das Vertrauen verloren und die neue Währung entwertet rasch. Im gleichen Jahr 1793 kommt es im Land zu einer Hyperinflation und König Ludwig XVI. wird auf Befehl der Montagnards (unter ihnen Robespierre, Danton und Marat) durch die Guillotine hingerichtet. Unter der Schreckensherrschaft kommt es zu neuen Aufständen. In diesen mengen sich nun Franzosen aller Klassen, nicht nur die Vermögenden und die Bourgeoisie.

Frankreich gelingt es nicht, die finanzielle und monetäre Krise zu bewältigen. Manch einer verweigert die Annahme von Assignaten. Das Vertrauen ist endgültig zerstört und die Druckerpresse wird im Februar 1796 auf dem berühmten Place Vendôme verbrannt.

 

Assignat mit einem Wert von 10 Pfund @istock

 

Auch als Ende 1795 das Direktorium eingerichtet wird, findet das Land nicht aus der Krise. Die neue Regierung, unter der Leitung eines fünfköpfigen Staatsorgans, will reinen Tisch machen. Die von den Thermidorianern angeregten Reformen werden fortgeführt.

1797, als die Aufstände beendet und Hunderttausende tot oder verschwunden sind, werden schließlich fast 70 % der Staatsschulden annulliert. Der Finanzminister Dominique Ramel erklärt: „Ich tilge die Fehler der Vergangenheit, um dem Staate die Mittel für seine Zukunft zu geben.“

Als Napoleon Bonaparte zum Konsul gewählt wird, ist die französische Wirtschaft am Tiefpunkt angelangt: Die Produktion läuft auf Sparflamme und der Konsum bleibt extrem schwach. Im Rahmen einer neuen Währung, dem Franc, werden Gold- und Silbermünzen wiedereingeführt. Im Jahr 1800 gründet Napoleon die Zentralbank Banque de France auf Vorschlag des Schweizer Financiers Perregaux, der mit Spekulationen auf die Assignaten ein Vermögen gemacht hatte. Die Notenbank wird als private Institution gegründet und gehört Napoleon persönlich. Basierend auf dem englischen und schwedischen System soll sie den Banken im Falle einer Krise Liquidität zur Verfügung stellen. Anfang des 19. Jahrhundert ist das Vertrauen nach einem revolutionären Jahrzehnt mehr oder weniger wieder hergestellt. Der Handel erholt sich, die Währung stabilisiert sich und ein neuer langfristiger Wirtschaftszyklus beginnt.

 

Banque de France @gettyimages

 

Dieser Ausflug in die Geschichte lädt uns ein, die heutige Zeit mit etwas Abstand zu betrachten. Gemeinsamkeiten mit der Situation Frankreichs zum Ende des 18. Jahrhunderts finden sich im Überfluss:

  • Frankreich und die meisten anderen Staaten weltweit nehmen seit mehreren Jahrzehnten und insbesondere seit der Finanzkrise von 2008 unaufhörlich neue Schulden auf. Die Risiken werden damit verzögert und kommenden Generationen angelastet.

  • Die Ungleichheit erreicht historische Höchstwerte, wie zum Ende des 18. Jahrhunderts. In Frankreich besitzen die reichsten 10 % der Bevölkerung heute einen großen Teil des nationalen Reichtums. (In anderen Ländern ist die Situation sogar noch beunruhigender.)

  • Um die Zinsraten der Staaten zu senken, werden unkonventionelle Maßnahmen angewendet. Was wir heute als „quantitative Lockerungen“ bezeichnen, existierte bereits 1767, mittels der Caisse d’Escompte.

  • In den letzten beiden Jahrzehnten waren die Preise moderat gestiegen (wobei sich die Kosten für Wohnraum stark erhöht haben). Ab April 2021 steigt die Inflation immer weiter an und insbesondere die Preise für Lebensmittel verteuern sich, wie im Jahr 1788.

  • Unter den drei größten Haushaltsposten Frankreichs finden wir heute wie schon 1789 die Zinsen auf die Staatsschulden und den Verteidigungsetat. Die öffentlichen Ausgaben werden stattdessen gekürzt.

  • Dieses Mal konnte eine katastrophale Hyperinflation dank dem Eingreifen der Zentralbanken verhindert werden. Doch die EZB schränkt ihre Maßnahmen ein, um eine Entschuldung durch Inflation zu erzielen (eine schon beim Staatsbankrott von 1789 empfohlene Lösung).

  • Aufgrund der Interdependenzen im Finanzsystem könnte es zu einer neuen Finanzkrise kommen. Nach der Pleite mehrerer amerikanischer Regionalbanken im März ist zwischen Ende 2023 und 2024 mit einer größeren Krise zu rechnen.

Trotz aller Gemeinsamkeiten besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem damaligen und dem heutigen Währungssystem: Das heutige Modell ermöglicht eine höhere Verschuldung und dadurch eine Verlängerung des aktuellen Zyklus, da die Geldmenge nicht mehr durch einen physischen Wert begrenzt ist. Dies bringt schwerwiegende indirekte Folgen mit sich (zunehmende Unterschiede in der Wohlstandsverteilung, soziale und gesellschaftliche Spannungen etc.)

Wenngleich die Gefahr einer neuen Französischen Revolution und sozialer Umwälzungen niemals ausgeschlossen werden kann, gestaltet sich die Situation heute im Zuge der Hyper-Digitalisierung komplexer.

Im Anschluss an die Gesundheitskrise, als die Verschuldung abrupt in die Höhe geschnellt war, haben mehrere Think-Tanks einen teilweisen Schuldenerlass vorgeschlagen. Es wurde vor allem die Idee diskutiert, die Schulden zu annullieren, die die Zentralbank zwischen 2020 und 2022 aufgekauft hatte, und die der Staat zurückzahlen muss (was letztlich darauf hinausläuft, dass der Staat sich selbst bezahlt, da die Notenbank eine öffentliche Einrichtung ist… Im Falle eines Schuldenerlasses oder -schnitts würden die Zahlungen allerdings reinvestiert und nicht „gestrichen“). Doch dieser Vorschlag blieb wirkungslos, nachdem die Notenbanker ihn als „undenkbar“ abqualifiziert hatten. Dabei wurde diese Lösung wiederholt angewendet, sei es vor 3000 Jahren in Mesopotamien oder in jüngerer Vergangenheit in verschiedenen Staaten (USA, Mexiko, Venezuela etc.) Deutschland griff allein im vergangenen Jahrhundert auf zwei Schuldenstreichungen zurück: Eine Schuldenerleichterung im Jahr 1918 und einen Schuldenschnitt von 60 % im Jahr 1953. Beide Male fiel dieser Beschluss, sowie die Streichung der französischen Schulden 1797, nach dem Ende eines entsetzlichen Krieges… Vielleicht wird es auch dieses Mal wieder so kommen. 

 

Sich die Geschichte immer zweimal ereignet, „das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

Karl Marx

 

Während sich der Krieg in der Ukraine fortsetzt und die sozialen Spannungen in den betroffenen Ländern zunehmen, bleibt die Lösung, einen Teil der Schulden zu annullieren, heute aktueller denn je. Auf diese Weise ließe sich verhindern, dass sich neue soziale Folgen zu den bestehenden Problemen hinzugesellen (geopolitische Konflikte, Ungleichheit…). Zudem würden die öffentlichen Finanzen entlastet. Doch diese Lösung hätte nur dann eine langfristige Wirkung, wenn anschließend ein neues Währungssystem eingeführt würde, das die Zyklen abschafft.

Ein solches Paradigma impliziert zunächst, dass die Währungspolitik auf demokratischem Wege festgelegt wird. Die Geldschöpfung darf anschließend nur in begrenzten Mengen erfolgen, gemäß einem Wachstumsziel, das an die realen Bedürfnisse angepasst ist. Neue, innovative Methoden müssen angewendet werden, um die Staatsschulden weiter zu reduzieren, ohne dass die Steuerzahler zusätzlich belastet werden. Eine schuldenfreie Währung kann diese Rolle ohne Weiteres übernehmen. Zudem muss der Geldumlauf gesichert werden, um eine zu hohe Sparrate zu vermeiden (Schwundgeld könnte dies gewährleisten). Schließlich müssten langfristige Perspektiven auf politischer Ebene immer Vorrang vor kurzfristigen haben. Eine solche weiche Landung würde die Grundlagen für eine neue Ära schaffen, in der für die Herausforderungen von morgen schon heute eine Lösung gefunden wird.

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