Die Diktatur der Zeit ist in der modernen Welt eine Selbstverständlichkeit. Die Angst vor der Zukunft und der Leere, die in jedem Menschen verankert ist, wird ausgenutzt, um die Zeit in ein knappes Gut zu verwandeln, das es zu maximieren gilt. Die Zeit drängt uns heute unerbittlich: Sie treibt uns an, zu arbeiten, zu produzieren und zu konsumieren, immer strebend nach neuen Reichtümern, die uns eine Illusion der Unsterblichkeit bieten.

Wie war unser Verhältnis zur Zeit im Laufe der Geschichte? Diese Frage sollte jeden von uns bewegen. In der Antike wurde die Zeit als zyklisch und unvorhersehbar betrachtet und stand in direktem Zusammenhang mit den Rhythmen der Natur. Die antiken Zivilisationen akzeptierten sie als eine äußere, manchmal gar mystische Kraft, die sich weder kontrollieren noch quantifizieren lässt.

Diese Sichtweise änderte sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Technik und unter dem Einfluss griechisch und römisch geprägter säkularer Werte setzte ein Wandel ein. In der zweiten Hälfte des Mittelalters etabliert sich ein neues Verhältnis zur Zeit, das die Wirtschaft der westlichen Hemisphäre und später der gesamten Welt für immer verändern sollte.

Der schwindende Einfluss der Kirche im Westen lässt zunehmend Raum für Zweifel und ermöglicht den Triumph der Marktgesellschaft. Die Beziehung der Kaufleute zur Zeit kollidiert mit der der Gläubigen: Die Kaufleute fürchten, dass die Zeit endlich ist, während die Gläubigen sie aufgrund der Verheißung des Jenseits für unendlich halten. Die Händler, die von der Endlichkeit ihres eigenen Lebens geplagt werden, entwickeln ein Verständnis der Zeit, das von der Idee geleitet wird, sie zu maximieren, solange es möglich ist.

Dies brachte einen Paradigmenwechsel mit sich, in dessen Rahmen „Zeit verlieren“ zur Sünde wurde. Der Florentiner Kaufmann Giovanni Rucellai veranschaulicht diese Mentalität, indem er erklärt, dass es „notwendig ist, Zeit zu sparen, denn sie ist das Wertvollste, was wir besitzen“. Diese Auffassung wird den Grundstein für den modernen Kapitalismus legen, in dem die Kontrolle über die Zeit den Reichen und Mächtigen vorbehalten ist. (Der ehemalige französische Verkehrsminister Jean-Baptiste Djebbari erklärte beispielsweise, dass „die Zeit der Entscheidungsträger kostbar ist.“)

Aus der Zeit des Mittelalters, die vom religiösen Kalender und den Gebetszeiten (den Kanonischen Stunden) bestimmt wurde, entwickelt sich nach und nach die Zeit als kostbare Ressource, wo jede Minute effizient genutzt werden muss. Ganz gleich, ob es sich um die handwerkliche Produktion, den Handel oder selbst die Freizeit handelt – alles wird strukturiert, um die Gewinne zu steigern und die Produktion zu optimieren.

In dieser Epoche entwickelt sich auch das moderne Finanzsystem: 1151 wird die erste Bank gegründet, und Schulden werden zu ihrem wichtigsten Hebel. Die Zukunft wird zum Handelsobjekt, denn die Zeit muss rentabel genutzt werden, um die aufgenommenen Kredite zu begleichen. Mit der Entwicklung des Kreditwesens setzt sich in dieser Wirtschaftsform ein lineares, ja sogar exponentielles Zeitkonzept im Rhythmus der Zinsen durch. Dieser Wandel markiert den Übergang von der Warenwirtschaft zum Kapitalismus, einem dynamischen Wirtschaftssystem, das unaufhörlich und um jeden Preis auf die Zukunft ausgerichtet ist. Gewinn und Wachstum werden zur Priorität, da sie die notwendige Voraussetzung für die Rückzahlung von Schulden sind. Diese Notwendigkeit nährt den von Marx beschriebenen Kreislauf Geld - Ware - Geld, der mit Wirtschaftskrisen infolge von Überschuldung und Überproduktion endet.

Seitdem häufen sich übrigens die Krisen, da sich das Kreditwesen und insbesondere die Wechselbriefe durchsetzen, während sich der Umlauf von metallischem Münzgeld verringert. Letzteres verkörpert einen greifbaren und in der Gegenwart verankerten Wert, da es sofort verfügbare, physische Ressourcen repräsentiert. Während Schulden uns an die Zukunft und an erwartete Renditen binden, führen uns Gold und Silber zu konkreten Werten zurück, die unabhängig von den Unwägbarkeiten der Zukunft sind.

So wird Geld, das ursprünglich lediglich ein Tauschmittel darstellte, zum Symbol für Sicherheit. Für eine Gesellschaft, die das Verrinnen der Zeit ängstlich beäugt, bedeuten Sparen und das Anhäufen von Reichtümern Zeit zu „sammeln“, in einer Art symbolischer Unsterblichkeit. Wie Keynes sagte: „Ein reicher Mann würde schließlich gut ins Himmelreich gelangen, vorausgesetzt, er hat gespart.“ Geld nimmt einen fast heiligen Charakter an, und das stetige Wachstum verschleiert eine wesentliche Dynamik: die der Kapitalakkumulation.

Im Zuge dessen organisieren sich die Gesellschaften mit Blick auf das intensivierte Verhältnis zur Zeit neu. Gegen Ende des Mittelalters tauchen die ersten mechanischen Uhren in den Kirchtürmen Europas auf und führen eine genaue Zeitmessung ein, die es ermöglicht, die Arbeitszeiten zu quantifizieren. Der Tag wird zerstückelt, vor allem in den italienischen Handelsstädten, der Wiege des Kapitalismus. Die Renaissance markiert anschließend einen symbolischen Wendepunkt, als der Mensch danach strebt, „Herrscher und Besitzer der Natur“ zu werden, wie Descartes schreibt. Die Zeit wird zu einem strategischen Faktor im Handel und die Großmächte wetteifern um die Kontrolle der schnellsten Seewege. Die Industrielle Revolution in Großbritannien verstärkt diesen Trend: Fabriken organisieren die Fließbandarbeit und setzen die „Arbeitszeit“ als Maßstab für die Produktivität durch, die mit Lohn und Leistung verknüpft ist.

Die Vorstellung einer beschleunigten Zeit durchdringt nunmehr alle Bereiche der Gesellschaft: Der Ausbau der Eisenbahnstrecken und später das Aufkommen von Hochgeschwindigkeitszügen verkürzen die Entfernungen und die Reisezeit, während die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführten Zeitzonen die globale Arbeitswelt revolutionieren. Die Technologie verändert Distanzen und verwischt Grenzen.

Zu diesen Innovationen kamen in jüngerer Zeit das Internet und digitale Werkzeuge hinzu, die die Zeit in eine Vielzahl kurzer Intervalle fragmentieren. Ein nicht endender Informationsfluss und zahllose kurze Videos für konsumorientierte Gesellschaften, in denen die Maxime „immer mehr und sofort“ lautet, und wo Produkte in großer Menge aber mit kurzer Lebensdauer entworfen werden.

Diese mittlerweile allgegenwärtige Zeitverdichtung beeinflusst jeden Aspekt unseres täglichen Lebens. Wir erleben unsere Tage in einem rasanten, von der Kreditwirtschaft bestimmten Tempo, unter dem Zwang konstanter Produktivität und in einer Atmosphäre allgemeiner Ungeduld. Momente der Ruhe sind diesem System ein Dorn im Auge. Es hasst, wenn sich jemand Zeit für die Mahlzeiten nimmt, in den Urlaub fährt, vier Tage pro Woche arbeiten will, mit 60 in den Ruhestand gehen möchte ... kurt gesagt, wenn sich jemand Freizeit gönnt, denn dies wird zu einer Form des Widerstands.

Dies hat weitreichende Auswirkungen auf unser Denken. Wie Günther Anders aufzeigte, geht es hier nicht nur um die Obsoleszenz von Dingen, sondern um die Obsoleszenz des Menschen selbst. Unter der Diktatur der Kurzfristigkeit wird das Denken eingeschränkt. Gleichzeitig sorgt dieses System auf tragische Weise für „Zerstreuung“ im Sinne Blaise Pascals: Die Inflation künstlich geschaffener Bedürfnisse und verfügbarer Dienstleistungen schafft permanente Ablenkung, füllt unsere Lebenszeit aus und lässt und so den Tod vergessen.

In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften scheint das Jahr nun wie ein Monat, der Monat wie eine Woche und die Woche wie ein Tag zu vergehen. Die Zeit ist eine Dimension, die uns einst mit der Natur und dem Wesen unseres Seins verband; heute wird sie erdrückt unter der Last einer Wirtschaft, die auf ein theologisches Ziel hinarbeitet und die Gesellschaft zur völligen Künstlichkeit umformt. Die Suche nach der verlorenen Zeit ist heute notwendiger denn je...

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