Kritik am europäischen Modell ist gang und gäbe. Es kann kein Zweifel mehr daran bestehen – außer für die größten Idealisten – dass Europa, so wie es erdacht und errichtet wurde, in Auflösung begriffen ist. Das Europa des Friedens ist gescheitert, seit der Krieg in der Ukraine an seinen Grenzen wütet (und von dem die europäischen Staaten am stärksten betroffen sind). Das Europa des Wirtschaftswachstums ist seit der Finanzkrise von 2008 in sich zusammengebrochen, die den alten Kontinent stärker getroffen hat als die Vereinigten Staaten. Das Europa der Diplomatie ist geschwächt, denn seine Sprachrohre werden immer weniger gehört, seitdem neue Mächte hervortreten und der Privatsektor zunehmend an Einfluss gewinnt.

Europa ist in mehrerlei Hinsicht auf dem Rückzug, nach wie vor aufgrund der frappierenden Meinungsverschiedenheiten seiner Mitgliedsstaaten. Da das europäische Projekt nur funktionieren kann, wenn die Unabhängigkeit eines jeden Landes respektiert wird, oder wenn Europa im Gegenteil einen einzigen Nationalstaat verkörpert (ein Konzept, das weithin auf starken Widerspruch stößt), verdammt der Zwischenzustand, in dem sich der Kontinent befindet, ihn zu einem nunmehr unausweichlich erscheinenden Niedergang.

Die Faktenlage ist klar. In den 2000er Jahren entfielen 30 % des globalen BIP auf Europa, heute sind es kaum noch 20 %. Doch wie kann man überhaupt auf Erfolg hoffen, wenn man gar nicht die Mittel hat, die eigenen Ambitionen zu erreichen? Wie will Europa eine Supermacht werden, wenn schon seine Struktur ungeeignet ist? In einem allerersten Schritt muss man die Tatsache anerkennen, dass Europa nicht über die Hegemonie des US-Dollars verfügt und daher nicht ohne Unterlass Defizite und wachsende Schuldenberge finanzieren kann. Nicht Keynes und Pierre Mendès France haben 1944 über das internationale Finanzsystem entschieden, sondern der Amerikaner Harry White.

Die Bilanz der Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 offenbart Versagen auf der ganzen Linie. Diese zielte nach der Unterzeichnung des hochgelobten Vertrags von Maastricht darauf ab, die Europäische Union „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen, […] der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum […] zu erzielen“, prallte jedoch mit der Wand der Realität zusammen. Nicht nur, dass das Wirtschaftswachstum auf der Stelle tritt (aus so unterschiedlichen Gründen wie der Tatsache, dass die Währungspolitik unangemessen für die 20 Einzelstaaten ist, das Budget unzureichend, die Abhängigkeit von externen Mächten in strategischen Fragen himmelschreiend…). Nein, auch die wissensgestützte Wirtschaft bleibt nichts als ein frommer Wunsch, denn die Ausgaben für Forschung betragen weniger als 2 % des BIP des Kontinents.

Europa ist beim Auffinden von Wachstumsmärkten spät dran und wird dadurch in die Abhängigkeit von ausländischen Mächten gezwungen. Im Bereich der künstlichen Intelligenz nimmt es beispielsweise die Dienste amerikanischer Unternehmen wie Nvidia und Google in Anspruch, um zu einem bedeutenden Akteur zu werden. Und wenngleich Europa in mehreren Staaten über renommierte Hochschulen verfügt, lässt es seine Talente oft ziehen, weil es ihnen nicht genug bezahlen kann. Es muss offen gesagt werden: Europa bevorzugt Reglementierung statt Innovation. Aufgrund seines institutionellen Modells verkörpert es eher eine Bürokratiemaschinerie als ein Land der Erfindungen. Seit 2008 haben mehr als 30 % der europäischen „Einhörner“ (Start-ups, deren Wert auf über 1 Milliarde Dollar gestiegen ist) ihren Unternehmenssitz ins Ausland verlegt. Und die fünf größten europäischen Technologieunternehmen haben zusammen lediglich einen Börsenwert von 300 Milliarden Dollar – verglichen mit mehr als 9 Billionen für die fünf größten US-Unternehmen.

Aufgrund seiner Geografie sowie seiner diplomatischen Standpunkte findet sich Europa zudem im Herzen einer Welt wieder, die im Umbruch ist, wo der Protektionismus im Eiltempo auf dem Vormarsch ist, wo die chinesische Wirtschaft schwächelt, wo die Zinsrevolution voranschreitet und wo Energie immer teurer wird. Nachdem man jegliche Souveränität an ausländische Mächte abgegeben hatte – sei es der Außenhandel mit China oder die Energie aus Russland (wenngleich manche EU-Staaten über Atomkraft verfügen) – machen sich die Folgen der Deglobalisierung nun deutlich bemerkbar.

Obendrein gebärt sich der treue und historische Verbündete Europas – die USA – immer öfter wie ein Feind. Ein Feind, wenn die USA den Euro mittels der Abhängigkeit der europäischen Banken von der amerikanischen Währung zum Vasallen des Dollars machen. Ein Feind, wenn die amerikanischen Finanzinstitute in europäische Länder eingreifen, um ihnen herabwürdigende Programme aufzudrücken. Ein Feind, wenn das Land die Wettbewerbsfähigkeit Europas schwächt, indem es mit seiner Finanzmacht europäische Unternehmen aufkauft (z. B. Alstrom). Ein Feind, wenn es Europa in strategischen Fragen den Rücken kehrt, namentlich bei den Atom-U-Booten. Ein Feind, wenn es den europäischen Staaten direkt nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs den Kauf von amerikanischem Schiefergas aufzwingt, zu Preisen, die weit über denen anderer Zulieferer liegen. Ein Feind, wenn es sich im Kriege einmischt, die zu Migrationsströmen führen, welche die europäischen Länder direkt betreffen und das Lohnniveau unter Abwärtsdruck setzen. Ein Feind auch, wenn es alles dafür tut, dass Europa weiterexistiert, aber seine Mitgliedsstaaten zerstritten bleiben.

Angesichts dieses Befunds besitzt der jüngste Bericht Mario Draghis, eines treuen Architekten des europäischen Projekts, die Kühnheit, die Nationen Europas an den wirtschaftlichen Niedergang zu erinnern, den sie seit mehr als 20 Jahren erleben. Problematisch sind allerdings die Maßnahmen, die der ehemalige EZB-Vorsitzende vorschlägt, insbesondere hinsichtlich der Finanzierung. Denn diese Maßnahmen, die im Rahmen eines föderalen Europas präsentiert werden (d. h. die Umformung Europas zu einem einzigen Staat, in dem sich die unterschiedlichen Kulturen auflösen), stoßen selbstverständlich gegen bestimmte Grenzen. Die 170 Empfehlungen, die Draghi formuliert, würden zusammengenommen fast 800 Milliarden Euro bis 2030 kosten, d. h. rund 4,5 % des europäischen BIP, während mehrere EU-Staaten gleichzeitig kurz vor einer Liquiditätskrise stehen. Zum Vergleich: Der Marshall-Plan, der den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte, kostete damals 1,5 % des BIP. Doch die Welt hat sich geändert. Nach 1945 war Europa wirklich das Europa des Friedens, denn es startete in einen neuen Zyklus mit starkem Wachstum, relativ geringer Ungleichheit und vor allem mit einer äußerst niedrigen Verschuldung. Der Handlungsspielraum war daher sehr groß.

Die heutige Zeit ist anders, und so nihilistisch, dass sie sich nicht um die Zukunft des alten, tausendjährigen Kontinents sorgt. Man darf zudem nicht vergessen, dass zahlreichen europäischen Staaten im Rahmen des Marshall-Plans die Schulden erlassen wurden (insbesondere auch Frankreich und Deutschland). Heute wird jeglicher Schuldenerlass dagegen als völlig unzulässig betrachtet, selbst wenn es sich um Schulden handelt, die ein Staat mittels seiner Zentralbank an sich selbst zurückzahlt.

Hinsichtlich der Finanzierung der Maßnahmen schlägt der Draghi-Bericht mehrere Wege vor. Zuerst bringt er die Idee vergemeinschafteter Schuldverschreibungen ins Spiel, die Eurobonds, so wie sie bereits während der Gesundheitskrise herausgegeben wurden. Doch wie können die EU-Staaten diese europäischen Anleihen finanzieren, ohne eine Schuldenkrise auszulösen? Die Zinsen steigen, die Mitgliedsstaaten sind überschuldet und die EZB hat keinen Handlungsspielraum mehr, um sie zu unterstützen (trotz der geringen Senkung des Leitzinses!). Vergemeinschaftete Schulden verkörpern nicht nur eine utopische Haushaltsunion, sondern bergen auch die Gefahr wiederholter Angriffe auf die Staatsschulden zahlreicher europäischer Länder (u. a. Frankreich) sowie eines steilen Anstiegs ihrer Zinssätze. Wenn eine solche Finanzierung kurzfristig möglich ist, dann nur, weil die nordeuropäischen Staaten, darunter auch Deutschland, in den letzten Jahren Haushaltsdisziplin an den Tag gelegt haben (es ist wahr, dass dies die Gewinner des Euros sind). Der Zinssatz der Eurobonds würde dank der von den Märkten als „vernünftig“ bewerteten Staatsverschuldung dieser Länder gesenkt.

Das ist noch nicht alles. Der Bericht schlägt außerdem - mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Römischen Verträgen - eine Reform des EU-Haushalts zur gezielteren Förderung privater Investitionen vor. Das heimliche Ziel besteht einmal mehr darin, Europa in einen einzigen Staat zu transformieren, indem der Haushalt von heute knapp 1 % des BIP auf weit mehr (20 %, 30 %?) aufgestockt wird. Ist denn überhaupt vorstellbar, dass dies morgen oder bis 2030 von den europäischen Ländern akzeptiert würde? Ein Machtverhältnis bildet sich aus…

Darüber hinaus bringt der Bericht auch die Verbriefung und die Vollendung der Bankenunion erneut ins Spiel. Die nordeuropäischen Länder lehnen dies jedoch unisono ab, und das aus gutem Grund. Denn sie alle wollen ihre finanzielle Souveränität bewahren, während sich die Bankenkonsolidierung auf dem alten Kontinent ohnehin im Alleingang beschleunigt. Die italienische Bank UniCredit hat ihre Beteiligung an der Commerzbank kürzlich erhöht und die spanische Bank Santander (Europas größte Bank) verfolgt ihre Pläne zur Übernahme der Société Générale weiter.

Der Bericht hebt auch die Idee einer echten Kapitalmarktunion hervor. Er weist darauf hin, dass privates Kapital, vor allem die umfangreichen Ersparnisse der Bürger, in Europa nach wie vor wenig mobilisiert wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Ersparnisse der privaten Haushalte in Europa auf fast 1,5 Billionen Euro belaufen, verglichen mit 850 Milliarden Euro in den USA. Mit anderen Worten würde man also nach einem letzten möglichen Finanzierungsweg suchen, um auch wirklich alle Ressourcen zu nutzen, nachdem die Regierungen Europas zuvor ohne Rücksicht auf Verluste Geld ausgegeben haben.

Dieser Bericht reiht sich an die vorhergehenden und erinnert jedes Mal aufs Neue – und immer eindringlicher – an die dekadente Situation des alten Kontinents. Die Kritik ist aber auch deshalb so scharf, weil Europa durchaus die Möglichkeit hätte, die Zügel seines Schicksals wieder in die Hand zu nehmen. Es hat das Potenzial, ein großer Kontinent (und keine große Union) zu sein, nicht nur aufgrund seiner kulturellen und intellektuellen Stärken, sondern auch aufgrund der Stärke seiner Sozialsysteme, die es auch heute noch zum begehrtesten Kontinent machen. Doch diese Zeit ist fast abgelaufen. Und wenn es so weitergeht, wird Europa in der sich abzeichnenden, neuen Welt endgültig untergehen. Es gilt keine Minute mehr zu verlieren. Europa muss die Unabhängigkeit jedes Mitgliedsstaates unbedingt respektieren, um seiner Geschichte treu zu bleiben und eine Zukunft zu schaffen, die den europäischen Ambitionen gerecht wird.

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