Wird sich das Vereinigte Königreich grundlegend wandeln? Nachdem Keir Starmer mit überwältigender Mehrheit zum neuen Premierminister gewählt wurde, wird seine Amtseinführung von zahlreichen Kontroversen begleitet. Die gravierendste, die ihm auch am häufigsten vorgeworfen wird, ist die Kluft zwischen seiner Partei, der Labour Party, und seinen eigenen Positionen, die deutlich liberaler sind, als deren politische Ausrichtung vermuten lassen würde. Wird es ihm gelingen, das Land trotz der besonderen Umstände wieder aufzurichten? Verfügt er überhaupt über ausreichenden Handlungsspielraum?
Nach 14 Jahren, in denen die Arbeiterpartei ohne Regierungsbeteiligung blieb, steht Starmer vor einer enormen Herausforderung. Nach den offenkundigen Misserfolgen der vorherigen Regierung, aber vor allem auch nach den sich aneinanderreihenden Krisen seit 2008, wird das Land von vielfältigen Problemen geplagt: Die Schuldenquote beträgt knapp 100 % des BIP, viele Kommunen stehen vor der Pleite, die Steuerbelastung erreicht fast den höchsten Wert seit dem Zweiten Weltkrieg (37 % des BIP), die Staatsausgaben liegen auf Rekordniveau (45 % des BIP), die Reallöhne stagnieren seit einem Jahrzehnt, die Wohnungsnot macht dem Land zu schaffen und die soziale Spaltung der Gesellschaft nimmt zu. Zudem verschlechtert sich der Zustand öffentlicher Dienstleistungen Jahr für Jahr (insbesondere das nationale Gesundheitssystem NHS), die Bevölkerung altert schnell und das Vertrauen der Briten in ihre gewählten Repräsentanten ist an einem Tiefpunkt angelangt.
Vor diesem Hintergrund wird der Brexit selbstverständlich mit zunehmender Skepsis betrachtet. Mehr als die Hälfte der Briten glaubt mittlerweile, dass der Austritt aus der Europäischen Union ein Fehler war. Und wenn man den Umfragen glaubt, sind nur noch 22 % der Ansicht, dass der Austritt eine gute Entscheidung war.
Während der Wahlkampagne hat sich Keir Starmer, ebenso wie seine wichtigtsen Konkurrenten, daher davor gehütet, dieses Thema anzusprechen. Der neue Bewohner der Downing Street gab an, eine Rückkehr in die EU abzulehnen, bekräftigte aber gleichzeitig, dass er die Kooperationsverträge mit dem alten Kontinent neu aushandeln wolle.
Eine erste Bilanz des Brexits
Welche Bilanz können wir heute nach dem Brexit ziehen? Auf den ersten Blick sind die Ergebnisse wenig erfreulich, wenngleich sie schwer zu bemessen sind. Das Wachstum blieb lange fragil. Seit 2016 hat sich das BIP der EU um 24 % erhöht, während das BIP Großbritanniens nur 6 % zugelegt hat. Im Gegensatz dazu war es vor dem Brexit die EU, die langsamer wuchs als das Vereinigte Königreich.
Das gleiche Phänomen sehen wir logischerweise auch beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: Seit 2016 ist das Pro-Kopf-BIP der EU gegenüber dem Großbritanniens jährlich um mehr als 2 % gestiegen.
Abgesehen davon hat der Austritt aus der Europäischen Union mit Blick auf die Außengrenzen des Landes (eine der Kernforderungen der Brexit-Befürworter) nicht die erhofften Resultate geliefert. In den letzten drei Jahren hat sich die Zahl der Migranten mehr als verdoppelt, da das Vereinigte Königreich die Immigration aus Europa nun durch Immigration aus anderen Staaten ersetzt. 2022 wurde mit 745.000 neu im Land angekommenen Personen sogar eine Rekordzahl an Immigranten verzeichnet, die Mehrzahl davon aus Afghanistan, aber auch aus dem Iran und der Türkei.
Auf den Außenhandel und die Investitionen hatte der EU-Austritt besonders negative Auswirkungen. Seit der Umsetzung des Brexit 2020 hat sich der Handel stark verringert, vor allem mit der EU (die wichtigster Handelspartner Großbritanniens ist). Im Vergleich zu anderen Industrienationen schnitt der Warenhandel des Vereinigten Königreichs rund 15 % schlechter ab.
Gleichzeitig hat der Austritt aus dem Binnenmarkt dem Land neuen Handlungsspielraum verschafft und das Unterzeichnen neuer Handelsabkommen u.a. mit Australien, Singapur und Neuseeland ermöglicht. Zudem wurde Großbritannien infolgedessen zum ersten europäischen Land, das dem transpazifischen Partnerschaftsabkommen CCTPP beitrat. Mit Blick auf das große versprochene Handelsabkommen mit den USA sind die Verhandlung jedoch weiterhin schwierig. Ende 2023 lagen die Exporte in Nicht-EU-Länder daher auf unverändertem Niveau, während die Importe 10 % gesunken waren.
Hinsichtlich der Investitionen hat der EU-Austritt die britischen Unternehmen, und vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen, hart getroffen. Infolge des Brexits und der neuen nationalen, nicht vereinheitlichten Regelungen sind sie gezwungen, für jede Produktkategorie zusätzliche Kosten zu tragen. Insgesamt müssen die Unternehmen des Landes pro Jahr fast 330 Millionen Pfund dafür aufwenden… Das schlägt sich logischerweise in den Investitionen nieder, die gegenüber der Zeit vor dem Brexit um 20 % zurückgegangen sind.
Trotz dieser erschreckenden Zahl und der Tatsache, dass die britischen Unternehmen zum Teil auch mit langwierigen administrativen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, haben sie sich von den europäischen Normen befreit und können nun bestimmte strategische, patentfähige Innovationen umsetzen. Das ist ein großer Gewinn für das Land.
Gemischte Resultate
Wenngleich die Auswirkungen in diesen beiden Bereichen, Handel und Investitionen, kaum umstritten sind, lassen sich anderswo widersprüchlichere Resultate konstatieren. Am Arbeitsmarkt hat sich die Lage beispielsweise deutlich angespannt, da ein beträchtlicher Mangel an Arbeitskräften besteht (insbesondere im Gesundheitssektor, im Hotel- und Gastronomiesektor und im Transportwesen). Die Erwerbslosenquote ist mit weniger als 5 % äußerst niedrig, während sie in der Eurozone bei über 6 % liegt.
Aus Sicht der Industrie scheint der Brexit eine gute Sache gewesen zu sein, denn die britische Industrie befindet sich im Aufschwung, während die Deindustrialisierung infolge der inneren Gegensätze Europas auf dem Alten Kontinent mit beispielloser Geschwindigkeit voranschreitet. Die Produktivität des Sektors wächst nicht nur deutlich schneller als in anderen OECD-Staaten, sondern führte auch dazu, dass Großbritannien Frankreich als achtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt überholen konnte.
Im Finanzwesen, das einen Anteil von 10 % am britischen BIP hat, konnte schließlich London seine Stellung als wichtigster Standort in Europa behaupten, obwohl die großen amerikanischen Investmentbanken Tausende von Beschäftigten nach Paris umsiedelten. Der Brexit hat in diesem Bereich lediglich zu einem vorübergehenden Vertrauensverlust geführt, denn das große Londoner Finanzzentrum, die City, bietet dem Land und seinen Unternehmen weiterhin einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil, sowohl im Investitionssektor als auch im Rechnungswesen, in Steuerfragen, bei der Buchprüfung etc. Während der Warenhandel rückläufig ist, befinden sich die Exporte von Dienstleistungen im Aufschwung und verzeichneten ein Plus von 12 %, verglichen mit einem durchschnittlichen Wachstum von 9 % in den anderen G7-Staaten seit 2020. Dieser Punkt wird in der Debatte um den Brexit meist vergessen: Der Austritt aus der EU wurde nicht nur auf politischem Wege herbeigeführt, sondern auch durch den Finanzsektor und insbesondere die Schattenbanken (Hedgefonds, Währungsfonds…). Durch ihre massive Unterstützung von Brexit-Befürwortern wurden sie zu bedeutenden Akteuren der Leave-Bewegung, wobei sie das Ziel verfolgten, das Land von den regulatorischen Bestimmungen der EU in Finanzfragen zu befreien.
Das Vereinigte Königreich behält zudem, wie schon seit jeher, die Kontrolle über seine Geldpolitik und damit über seine Währung. Wenngleich das britische Pfund nach einem historischen Absturz im Zuge der Umsetzung des Brexits volatiler geworden ist, ist das nichts verglichen mit dem kontinuierlichen Wertverlust des Euros. Letztlich bleibt das Pfund relativ stark und legt gegenüber dem Euro beständig zu, aber seit zwei Jahren auch gegenüber dem Dollar. Und das in Kombination mit einer Industrie, die sich nicht besser entwickeln könnte.
Darüber hinaus ist es gelungen, die starke Inflation der letzten Jahre effizient einzudämmen. Diese war in Großbritannien auf über 10 % gestiegen (aufgrund der starken Abhängigkeit des Landes von Öl und Gas), ist nun aber wie in der überwiegenden Mehrheit der Industriestaaten wieder auf 2 % gefallen, wenngleich sie noch immer über dem Ziel der EZB in Europa liegt. Dank der Entscheidung des Vereinigten Königreichs, sich nicht der Eurozone anzuschließen, kann das Land seine eigenen geldpolitischen Beschlüsse fassen, insbesondere hinsichtlich der Leitzinsen, wobei die Bank of England unabhängig bleibt. So ist es der Zentralbank trotz der Erschütterungen im Zusammenhang mit der Amtseinführung von Liz Truss gelungen, die Finanz- und Währungsstabilität zu wahren. Langfristig ist sie jedoch zum gleichen Dilemma verdammt wie alle Zentralbanken der Welt: Der Wahl zwischen einer endgültigen Rückkehr zur Preisstabilität oder einer großen Finanzkrise.
Langfristig positive Folgen?
Wenn wir eine Bilanz des Brexits ziehen wollen, müssen wir auch an die historischen Ereignisse der letzten Jahre erinnern. Die schlechten wirtschaftlichen Ergebnisse sind in Wirklichkeit nicht nur auf den Brexit, sondern auch auf zahlreiche andere Krisen der jüngeren Vergangenheit zurückzuführen, von der Gesundheitskrise bis hin zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine und den geopolitischen Spannungen rund um den Globus. Wenngleich sich die britische Wirtschaft deutlicher abgeschwächt hat, als das ohne den EU-Austritt der Fall gewesen wäre, und trotz der Rezession im vergangenen Jahr, hat sie nun ein Wachstum von 0,7 % im ersten Quartal verzeichnet - das beste Ergebnis aller Industriestaaten. Dies deutet darauf hin, dass der Austritt aus der EU langfristig positive wirtschaftliche Auswirkungen haben könnte. Es ist zudem anzunehmen, dass die Exporte in den nächsten zehn Jahren die Importe übersteigen werden, allerdings auf Kosten eines geringeren Gesamthandelsvolumens.
Vergessen wir zudem nicht, dass sich das Vereinigte Königreich vor allem aus einem Willen zu Unabhängigkeit und Souveränität heraus für den EU-Austritt entschieden hat. Von den Europäern trennte die Briten schon immer das berühmte und sonderbare Gefühl des Exzeptionalismus. Jahrhundertelang wollten sie sich vom Alten Kontinent unabhängig machen, insbesondere seit der Gründung der Europäischen Union. Ihre historische Treue zum angelsächsischen Kapitalismus macht sie zu engeren Verbündeten der USA als Europas…
Unter diesen besonderen Umständen hat der neue Premierminister sein Wirtschaftsprogramm klar und deutlich umrissen. Unterstützt wurde er dabei von der neuen Schatzkanzlerin (entspricht dem Posten des Finanzministers) Rachel Reeves, deren Studium der Ökonomie an der Universität Oxford und anschließend an der London School of Economics vermuten lässt, dass Haushaltsdisziplin ihre Devise ist. In mehreren Etappen präsentieren sie das neue Wirtschaftsprogramm des Landes: Wachstum als Eckpfeiler ihrer Amtszeit, Einschränkung der staatlichen Präsenz durch Kürzung der öffentlichen Ausgaben, starkes Wachstum der Produktivität, Rückkehr zur wirtschaftlichen und politischen Dezentralisierung, Beschränkung des Steuersatzes für Unternehmen auf 25 %, keine Anhebung der Einkommenssteuer, der Sozialbeiträge und der Mehrwertsteuer, sowie Gründung eines Staatsfonds zur Stärkung privater Investitionen und des industriellen Aufschwungs.
Die größte Herausforderung bleibt jedoch die Staatsverschuldung in Rekordhöhe, die dem Land Opfer bei den Ausgaben sowie den Einnahmen abverlangt, sollte kein ausreichendes Wachstum erzielt werden. Wie Keir Starmer diese Aufgabe anzugehen beabsichtigt, bleibt sehr unklar. Als Premierminister einer währungspolitisch souveränen Nation könnte er den Schuldenabbau durch eine tiefgreifende Reform der Geldpolitik zum zentralen Projekt seiner Amtszeit machen und sich so für kommende Generationen einsetzen. Von diesem Kampf wird sein Verbleib an der Macht, aber vor allem die Zukunft des Vereinigten Königreichs abhängen.
Die vollständige oder teilweise Vervielfältigung ist gestattet, sofern sie alle Text-Hyperlinks und einen Link zur ursprünglichen Quelle enthält.
Die in diesem Artikel bereitgestellten Informationen dienen rein informativen Zwecken und stellen keine Anlageberatung und keine Kauf- oder Verkaufsempfehlung dar.