Historisch betrachtet waren die Wirtschaftsräume Europas und Nordamerikas immer eng miteinander verbunden. Die Zahlen zeigen vergleichbares Wachstum und einen vergleichbaren Lebensstandard, auch wenn die USA immer einen gewissen Vorsprung gegenüber dem „alten Europa“ hatten. Die aktuelle Krise mit der Rückkehr der Inflation und dem Krieg in der Ukraine kristallisiert Tendenzen heraus, die schon seit Längerem am Werk sind: Eine Entkoppelung zeichnet sich ab, zum Nachteil Europas. Zwei strukturelle Phänomene sind der Grund dafür:

1) Die Energieabhängigkeit Europas

Die aktuelle Inflation betrifft insbesondere die Rohstoffpreise und nahm bereits lange vor der Invasion Russlands in der Ukraine ihren Anfang, auch wenn dieser Gewaltstreich die Spannungen am Markt verschärft hat. Die Druckerpressen der EZB und der Fed haben die Rohstoffproduzenten schon vor Langem überzeugt, ihre Preise zu erhöhen, um der Geldentwertung zu begegnen. Doch in den letzten Wochen hatten die Sanktionen der Europäischen Union gegenüber Russland, das muss man leider sagen, einen Boomerang-Effekt. In Moskau stört man sich kaum daran, aber die Staaten, die vom russischen Gas und Öl abhängig sind, geraten in Bedrängnis. Ihre Preise explodieren aufgrund von Entscheidungen, deren Folgen von den verantwortlichen Politikern schlecht abgewogen wurden. Putin hat die Gaslieferungen nach Europa nun praktisch eingestellt und die Reserven werden im kommenden Winter womöglich aufgebraucht sein. Obendrein hat sich die EU auch noch einen unhaltbaren Zeitplan für die Energiewende gesetzt, die zudem sehr teuer in der Umsetzung ist (Windkraftanlagen und Elektrofahrzeuge müssen subventioniert werden). Noch schlimmer als die Inflation sind Knappheiten, wie wir bereits im März erklärt haben, und diese scheinen sich nun abzuzeichnen.

2) Die Fragmentierung der Eurozone

Der Euro ist eine sehr spezielle Währung: „Das ist mit Sicherheit das erste Mal in der Geschichte, dass EINE Währung von MEHREREN Zentralbanken verwaltet wird“, schrieben wir 2013.

Dieses barocke Konstrukt manifestiert sich im stetig wachsenden Ungleichgewicht der TARGET2-Salden zwischen den verschiedenen Zentralbanken. Das Ungleichgewicht schlägt sich zudem in der Differenz zwischen den Zinssätzen auf Staatsschulden nieder, die uns heute interessiert. Die Zinsen, die die Länder in Schwierigkeiten auf ihre 10-jährigen Anleihen zahlen müssen, steigen gefährlich an, sei es für Italien auf 4 % oder für Frankreich auf 2 %, nachdem sie im Dezember 2021 noch bei null lagen – eine steile Progression. Die Differenz zum Referenzzinssatz von Deutschland (der „Spread“) nimmt unaufhaltsam zu, was früher oder später zu einer mit 2011 vergleichbaren Krise führen muss. (Wir erinnern uns, dass damals nur Griechenland betroffen war, aber der Euro bereits vom Zusammenbruch bedroht war…)

Die Hauptfolge aus Punkt 1) ist die dauerhafte Schwächung des Wachstums im Verhältnis zu den USA, die in Energiefragen unabhängig sind, und womöglich sogar eine langanhaltende Rezession. Aus Punkt 2) folgt, dass die EZB nicht in der Lage ist, ihre Geldpolitik ernsthaft zu straffen, wenn sie die Eurozone nicht gefährden will. Gleichzeitig besteht jedoch auch die Gefahr, dass der Euro gegenüber dem Dollar abwertet und die importierte Inflation auf diese Weise zunimmt (wir dürfen nicht vergessen, dass Rohstoffe in US-Dollar bezahlt werden). Die Eurozone steuert daher geradewegs auf eine Stagflation zu, oder schlimmer noch, auf eine Rezession in Kombination mit Inflation…

Die EZB sitzt in der Falle, und sie weiß es. Nach einer Dringlichkeitssitzung am 15. Juni hat sie beschlossen, nichts zu tun, außer zu bestätigen, dass sie weiterhin italienische Schulden kaufen wird, um die Märkte zu beruhigen. Die Überraschung der Pressemitteilung war die Ankündigung eines „Anti-Fragmentierungsinstruments“, zu dem noch keine weiteren Details genannt wurden. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters hat das Werkzeug die Aufgabe, „eine Höchstgrenze für die Kreditkosten der am stärksten verschuldeten Staaten zu setzen“. Dazu zählen Italien, Spanien, Griechenland und Frankreich, das ebenfalls in schlechter Verfassung ist. Anders gesagt könnte die EZB Staatsschulden aufkaufen, ohne die laut Aufteilungsschlüssel festgelegten, üblichen Mengen einzuhalten (die sich nach dem BIP richten), um Staaten in finanziellen Schwierigkeiten zu privilegieren. Damit riskiert sie die tugendhaften Länder Nordeuropas zu verärgern und die politischen Spannungen innerhalb der EU zu verstärken…

Ein abgehängtes, weitgehend deindustrialisiertes und in Energiefragen stark abhängiges Europa (das sich zudem weigert, sein Schiefergas zu nutzen oder wieder verstärkt auf Atomkraft zu setzen), welches sich eine unhaltbare Energiewende auferlegt (Produktionsstopp für Autos mit Verbrennungsmotor bis 2035): Das ist die Vision, die sich seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine immer deutlicher abzeichnet. Mit den Druckerpressen als einzigem Ausweg droht die Hyperinflation. Es ist höchste Zeit zu handeln.

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